Aktueller Stand

Seltene sind mehr als gedacht

Von Nadine Effert · 2023

Wer von einer seltenen Erkrankung betroffen ist, steht häufig vor einem langen Leidensweg – weil Ärztinnen und Ärzte von so mancher Krankheit noch nie etwas gehört haben, Symp-tome aufgrund fehlenden Wissens falsch zugeordnet werden und vor allem wirkungsvolle Arzneimittel Mangelware sind. Doch es gibt auch viele positive Entwicklungen für die vier Millionen Betroffenen in Deutschland.

Eine ältere Frau sitzt auf dem Sofa und blickt nachdenklich nach draußen.
Die meisten Menschen mit einer seltenen Erkrankung wissen über Jahre hinweg nicht, woher ihre Beschwerden kommen. Foto: iStock / dragana991

Man geht zum Arzt, schildert seine Beschwerden, bekommt eine Diagnose und eine Therapie verschrieben, welche die Symptome lindert beziehungsweise die Krankheit heilt. Von diesem Szenario können Menschen mit einer seltenen Erkrankung, auch Orphan Disease genannt, nur träumen. In der Europäischen Union (EU) wird eine Krankheit per Definition als selten eingestuft, wenn sie nicht mehr als fünf von 10.000 Personen betrifft. Klingt wenig, ist es in Bezug auf die Gesamtzahl an Betroffenen jedoch keineswegs: „Auch wenn jede Erkrankung für sich genommen selten ist, teilen aufgrund dieser Seltenheit weltweit etwa 300 Millionen Menschen ein ähnliches Schicksal“, sagt Mirjam Mann, Geschäftsführerin der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE). „So erleben die Betroffenen in Deutschland wahre Odysseen durch das Gesundheitssystem, werden in Schule, Berufsleben und Alltag behindert, zusätzlich zu den Einschränkungen, die die Erkrankungen mit sich bringen!” 

Wettlauf mit der Zeit

In Deutschland geht man schätzungsweise von vier Millionen Betroffenen aus – darunter viele Kinder und Jugendliche. Der Grund hierfür: Etwa 80 Prozent der Krankheiten sind genetisch bedingt und manifestieren sich folglich bereits in jungen Jahren. Ein chronischer, fortschreitender Verlauf bei reduzierter Lebenserwartung ist ebenso meistens typisch. Das Feld der seltenen Krankheiten zeigt sich sehr heterogen mit teils komplexen Krankheitsbildern – von speziellen Krebsarten über Stoffwechselerkrankungen bis hin zu Krankheiten der Muskeln und Nerven. Egal, um welches Leiden es sich handelt, in der Regel vergehen bis zur Diagnose viele Jahre mit unzähligen Arztbesuchen, die keinen Aufschluss geben. Warum das so ist: Seltene Krankheiten fallen schlichtweg häufig durch das alltägliche Diagnoseraster. Kein Wunder, sind heutzutage doch rund 8.000 verschiedene bekannt. Nicht zu wissen, was hinter den Beschwerden steckt, ist mehr als zermürbend, belastet stark die psychische Gesundheit und kann zudem zu falschen Behandlungen führen. Oft ist es auch ein Wettlauf gegen die Zeit, denn so manche Krankheit hat massive Folgeerscheinungen, wie Organschädigungen und stark lebenseinschränkende Begleitsymptome. 

Aktueller Stand: Forschung enorm wichtig

Und auch wenn die Diagnose endlich steht, gibt es nur für wenige der „Seltenen“ auch Therapien. Aufgrund ihres raren Vorkommens kam die Forschung nur auf einigen Krankheitsgebieten in der Vergangenheit voran. Die Entwicklung von Medikamenten ist per se eine sehr kostspielige Angelegenheit – mit in diesem Fall wenigen Abnehmenden – und gelingt nur dort, wo Krankheitsvorgänge auf molekularer Ebene bekannt sind, was Grundlagenforschung voraussetzt. Die Forschung ist für die zukünftige Versorgung der „Waisen der Medizin“ von überragender Bedeutung. Da für viele Erkrankungen keine oder nur sehr wenige Therapiemöglichkeiten zur Verfügung stehen, können schon kleine Forschungsfortschritte signifikante Verbesserungen in der gesundheitlichen Situation bedingen und die Lebenserwartung nachhaltig positiv beeinflussen. Nach Angaben des Verbands der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa) stehen den Patientinnen und Patienten in der Europäischen Union derzeit 145 sogenannter Orphan Drugs zur Verfügung. 

 

Mehr Orphan Drugs

In 2022 machten solche Medikamente mehr als ein Drittel aller neu eingeführten Arzneimittel aus. Einige von ihnen sind die ersten gegen die betreffende Krankheit überhaupt, etwa im Fall des Hutchinson-Gilford-Progeriesyndroms, sprich vorzeitiger Alterung. „Doch auch neue Medikamente gegen bereits behandelbare seltene Krankheiten sind von großem Wert, können sie doch für bessere Therapieergebnisse sorgen oder Betroffenen helfen, die auf die erste Behandlung nicht ansprechen“, betont vfa-Präsident Han Steutel. „Deshalb sollte die europäische und nationale Unterstützung für solche Projekte in vollem Umfang weitergeführt werden.“ 

Mit Stand Dezember 2022 werden laut vfa noch weitere rund 2.400 Arzneimitteltherapien entwickelt, die ebenfalls den Orphan-Drug-Status, aber noch keine Zulassung von der europäischen Zulassungsbehörde EMA erhalten haben. Für 2023 sollen einige neue Orphan Drugs für eine Markteinführung infrage kommen. Darunter unter anderem Medikamente gegen seltene Erbkrankheiten wie Fibrodysplasia ossificans progressiva, bei der sich Knorpel und andere Arten von Bindegewebe allmählich in Knochen umwandeln, oder CDKL5-assoziierte epileptische Enzephalopathie. Außerdem in der Pipeline: verschiedene Gentherapien, zum Beispiel für eine sehr seltene Form der Blutgerinnungsstörung namens Hämophilie B.

Seltene sichtbarer machen

Dennoch: Nicht nur im Bereich Entwicklung neuer Therapien gibt es noch viel zu tun. Auf vorhandene Defizite weist der „Rare Disease Day” am 28. Februar hin. Jedes Jahr machen die Betroffenen gemeinsam auf ihre Anliegen aufmerksam. Sie wünschen sich neben mehr Forschung, mehr Therapien und Behandlungsmöglichkeiten sowie der Chance auf ein besseres, längeres Leben auch gesellschaftliche Anerkennung und Teilhabe. Das Gute: Durch Anreize für eine Erforschung dieser Krankheiten, die Einrichtung spezialisierter Zentren und engagierte Patientenorganisationen, die im Dachverband ACHSE organisiert sind und sich für die Selbsthilfe starkmachen, verbessert sich die Situation für die Betroffenen nach und nach. Dazu trägt auch der Aktionsplan des Nationalen Aktionsbündnisses für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE), das vom Bundesgesundheitsministerium, dem Bundesforschungsministerium und der ACHSE gegründet wurde, bei. Er beinhaltet 52 Maßnahmen unter anderem zur Verbesserung der Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten für Patientinnen und Patienten und zum Aufbau spezialisierter Zentren.

Spezialisierte Zentren

„Was tun bei unklarer Diagnose?“, „Wo finde ich die richtige Behandlung?“, „Wer kennt sich mit meinem Leiden wirklich aus?” Diese und viele weitere Fragen stellen sich Menschen mit seltenen Erkrankungen. Seit 2009 haben sich bundesweit, überwiegend an Universitätskliniken, 37 Zentren für Seltene Erkrankungen (ZSE) etabliert. Mit ihren Fachzentren bieten sie krankheitsspezifische Expertise und Versorgung, sind aber auch eine Anlaufstelle für Menschen mit noch ungeklärter Diagnose. Eines der ersten ZSE wurde in Tübingen gegründet. Im September 2022 wurde es als Referenzzentrum für Seltene Erkrankungen von der Zertifizierungsgesellschaft ClarCert – gemäß den NAMSE-Anforderungen – zertifiziert. „Die intensive Prüfung bestätigt uns darin, dass die umfassenden Aktivitäten rund um die Verbesserung der Lebensqualität von Menschen mit seltenen Erkrankungen auf einem sehr hohen Niveau erfolgen“, so Dr. Holm Graeßner, Geschäftsführer ZSE Tübingen, dem vor Kurzem der „EURORDIS Leadership Award 2023“ für seinen unermüdlichen lebenslangen Einsatz für Menschen mit seltenen Erkrankungen verliehen worden ist. Das ClarCert-Zertifikat, das bis dato an vier Zentren in Deutschland vergeben worden ist, hat eine Gültigkeit von drei Jahren. In dieser Zeit finden jährliche Überwachungsaudits statt. „Die Zertifizierung der Zentren ist ein Meilenstein“, betont ACHSE-Geschäftsführerin Mann. „Das Qualitätssiegel verspricht Transparenz, sichert langfristig die Versorgungsqualität und bietet Patientinnen und Patienten mit seltenen Erkrankungen die dringend benötigte Orientierungshilfe im Versorgungsdschungel.“

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