Orphan Diseases

Künstliche Intelligenz als Hoffnungsträger

Von Nadine Effert · 2024

Der Umgang mit seltenen Erkrankungen ist für Betroffene und medizinisches Fachpersonal gleichermaßen herausfordernd. Die Diagnose ist schwierig, und es mangelt an Therapien. Mit neuen Verfahren der Künstlichen Intelligenz und des Maschinenlernens können Krankheiten automatisch erkannt werden – eine Voraussetzung für frühere Diagnosen und individuelle Therapien bei seltenen Krankheiten.

Kinderhände halten ein virtuelles Gehirn mit dem Schriftzug AI
Foto: iStock/Userba011d64_201

Von A wie Aarskog-Scott-Syndrom über O wie Osteochondritis bis Z wie zerebrotendinöse Xanthomatose: Es gibt aktuell bis zu 8.000 Krankheiten, von denen selbst die meisten Ärztinnen und Ärzte noch nichts gehört haben und für die es kaum effektive Therapien gibt. Die Rede ist von seltenen Krankheiten, auch bekannt als Orphan Diseases (engl. orphan „Waise“, disease „Krankheit“), von denen pro Jahr etwa 250 neu entdeckt werden. Eine Erkrankung wird in der EU als „selten“ bezeichnet, wenn höchstens fünf von 10.000 Personen daran leiden. Obwohl die Zahl der Betroffenen mit Blick auf die einzelne Erkrankung gering ist, ist es die Gesamtzahl keineswegs: In Deutschland leiden schätzungsweise ungefähr vier Millionen Kinder und Erwachsene unter einer seltenen Erkrankung, in der EU sind es etwa 30 Millionen und weltweit rund 350 Millionen.

Breites Spektrum an „Orphan Diseases“

Von speziellen Krebsarten und Stoffwechselerkrankungen bis hin zu Krankheiten der Muskeln und Nerven: Seltene Erkrankungen bilden eine sehr heterogene Gruppe von zumeist komplexen Krankheitsbildern. Mit etwa 80 Prozent ist der Großteil der Orphan Diseases genetisch bedingt oder mitbedingt, sodass die ersten Symptome schon kurz nach der Geburt oder in früher Kindheit auftreten. Dies ist beispielsweise der Fall bei der Osteogenesis imperfecta, umgangssprachlich: Glasknochenkrankheit, oder beim Rett-Syndrom, bei dem zwischen dem 6. und 18. Monat erstmals Anzeichen eines Entwicklungsstopps auftreten. Ebenso unterschiedlich wie die Art der Erkrankungen ist auch ihre Häufigkeit. Von beispielweise der Amyotrophen Lateralsklerose, kurz ALS, einer neurodegenerativen Krankheit, die zunehmend Nerven zerstört und Muskeln lähmt, sind rund 8.000 Menschen in Deutschland betroffen. Hingegen gibt es weltweit nur etwa 250 Kinder, die an Progerie, der sogenannten Greisenkrankheit, leiden.

Späte Diagnose, wenige Therapien

Seltene Krankheiten sind ernste, oft chronische und fortschreitende Krankheiten, die häufig lebensbedrohlich sind. Je früher eine seltene Krankheit diagnostiziert wird, umso besser kann sich die betroffene Person auf ihr Schicksal einstellen und umso besser kann ihr in einigen Fällen geholfen werden. Auch wenn ein Großteil der Seltenen nicht heilbar ist, lassen sich zumindest häufig die Symptome bekämpfen. Der Verein ACHSE, die Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen, macht jedoch darauf aufmerksam, dass Betroffene „häufig eine jahrelange vergebliche Suche nach der richtigen Diagnose, einen eklatanten Mangel an Expertise für die jeweilige Krankheit sowie unzureichende Therapiemöglichkeiten, fast immer ohne Aussicht auf Heilung, erleben“. Der Leidensdruck bei Betroffenen, aber auch deren Angehörigen, ist daher groß. Etwa 40 Prozent der Patientinnen und Patienten werden zunächst fehldiagnostiziert, viele weitere erfahren nie, was ihnen eigentlich fehlt. Ein Grund: Aufgrund ihrer Komplexität, Variabilität, unspezifischen Symptomatiken und des mangelnden Wissens über seltene Erkrankungen ist es für nicht spezialisierte Ärztinnen und Ärzte eine große Herausforderung, eine Diagnose zu stellen. 

Im Schnitt warten Betroffene fünf Jahre, vereinzelt aber auch über 20 Jahre, auf Klarheit. Und wenn eine Diagnose erfolgt, stehen nur für wenige Krankheiten Therapien zur Verfügung, da sowohl die Erforschung der Krankheiten als auch die Entwicklung neuartiger Medikamente in diesem Bereich erschwert sind. Hinzu kommt, dass dies für Pharmaunternehmen aufgrund der kleinen Patientengruppen nicht lukrativ und somit attraktiv ist. Aktuell sind laut Verband Forschender Arzneimittelhersteller e. V. in der EU 143 sogenannte Orphan Drugs zugelassen (Stand: Oktober 2023), mit denen 171 Krankheiten behandelt werden können. 

Zentren als wichtige Anlaufstelle 

Eva Luise Köhler, Schirmherrin der ACHSE, appellierte auf der letzten Nationalen Konferenz zu Seltenen Erkrankungen (NAKSE) im September 2023 insbesondere an die Politik: „Forschung und Vernetzung brauchen strukturelle Förderung. Von der Erforschung seltener Erkrankungen können auch die häufigen Erkrankungen profitieren.“ Das gelte nicht nur für Therapieansätze, sondern auch für die vernetzten Versorgungsstrukturen, die mit den Zentren für Seltene Erkrankungen (ZSE) bereits etabliert sind. Diese müssten endlich auf finanziell sichere Beine gestellt werden. Die bundesweit insgesamt 36 ZSE sind wichtige Anlaufstellen für Menschen mit Verdacht auf eine seltene Erkrankung oder gesicherter Diagnose. 

Roboterhand zeigt zu einer DNA-Helix
Mit Künstlicher Intelligenz schneller zur Diagnose seltener Erkrankungen. Foto: iStock / PhonlamaiPhoto

Von KI profitieren

Als ein echter Gamechanger in der Versorgung von Menschen mit seltenen Krankheiten könnte sich Künstliche Intelligenz (KI) entpuppen. Neue Technologien des maschinellen Lernens haben das Potenzial, die Erforschung, Diagnostik und Behandlung seltener Erkrankungen deutlich zu verbessern. Verschiedene Studien haben bereits unterschiedliche Ansätze gezeigt, um mithilfe von Algorithmen der KI schnell Muster und Zusammenhänge zu erkennen. 

So konnte unter anderem ein Forschungsteam des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften und des Universitätsklinikums Leipzig zeigen, dass KI automatisch Muster in Bildgebungsdaten von Patientinnen und Patienten erkennen kann, die spezifisch für seltene Demenz-Erkrankungsformen sind. „Wir konnten im Vergleich zu vorherigen Studien nicht nur Erkrankte von Gesunden unterscheiden, sondern zusätzlich die spezifische Krankheit klar von anderen Demenzkrankheiten abgrenzen“, sagt Matthias Schroeter, Oberarzt an der Klinik für Kognitive Neurologie des Universitätsklinikums Leipzig. „Dies ist ein entscheidender Schritt, um die Therapie an jeden einzelnen Betroffenen und seine Krankheit anzupassen.“ Forschende der Universität Zürich (UZH) wiederum nutzen KI in der Wirkstoffentwicklung für die seltene, unheilbare Speicherkrankheit Cystinose, die bereits im frühen Kindesalter zu Nierenversagen führt. Mithilfe von Modellsystemen konnten sie die Signalwege identifizieren, welche die Krankheit verursachen, und mögliche Ziele für Therapien priorisieren. Auf der Medikamenten-Plattform PandaOmics wurde nach bereits vorhandenen passenden Medikamenten gesucht. 

Die Analyse der Struktur der Medikamente, ihrer Ziele, möglicher Nebenwirkungen und ihrer Wirksamkeit in den betroffenen Geweben brachte ein vielversprechendes Arzneimittel zutage. Alessandro Luciani, einer der Forschungsgruppenleiter, ist zuversichtlich: „Obwohl weitere klinische Untersuchungen erforderlich sind, glauben wir, dass diese Ergebnisse, die durch eine einzigartige Zusammenarbeit erzielt wurden, uns einer realistischen Therapie für Patienten mit Cystinose näherbringen.“

Smartes Arztportal geplant

Krankheitsübergreifend und bis Dezember 2024 vom Bundesministerium für Gesundheit gefördert, tüftelt das Fraunhofer IESE aktuell im Projekt „Smartes Arztportal für Betroffene mit unklarer Erkrankung“ (SATURN) daran, wie mithilfe von KI bei geringen Datenmengen nachvollziehbare und transparente Verdachtsdiagnosen für seltene Erkrankungen gestellt werden können. Mit dem se-atlas, einer Maßnahme des Nationalen Aktionsbündnisses für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE), ist ein Register mit den Zentren für Seltene Erkrankungen angebunden, sodass direkt Kontakt mit Spezialistinnen und Spezialisten aufgenommen werden kann. Zum diesjährigen „Tag der Seltenen Erkrankungen“ am 29. Februar stellt SATURN den ersten Prototyp auf saturn-projekt.de vor.

Schon gewusst?

Millionen

So viele Menschen leben Schätzungen zufolge mit einer seltenen Erkrankung allein in Deutschland. In der gesamten EU geht man von 30 Millionen Betroffenen aus.

Quelle: Bundesministerium für Gesundheit

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