Herausforderung seltene Erkrankung

Schon der Name hilft

Von Michael Gneuss und Katharina Lehmann · 2022

Vier Millionen Deutsche leiden an einer Seltenen Erkrankung – rund fünf Prozent der Bevölkerung. Die verschiedenen Krankheitsbilder unterscheiden sich massiv. Oft werden Seltene Erkrankungen erst nach monate-, manchmal jahrelangem Ärztemarathon erkannt. Dabei wären eine frühe Diagnose und mit ihr ein schneller Therapiebeginn für den positiven Verlauf der jeweiligen Krankheit so wichtig.

Eine Familie mit Kindern sitzt beim Arzt.
Seltene Erkrankungen werden meist im Kindesalter diagnostiziert. Foto: iStock / Geber86

Wenn 0,05 Prozent der Menschen an einer Krankheit leiden, dann klingt das nach wenig. Doch zählt man alle Seltenen Erkrankungen zusammen, ergibt sich ein anderes Bild: Da es Schätzungen zufolge etwa 6.000 bis 8.000 verschiedene Seltene Erkrankungen gibt, ist die Gesamtzahl der Betroffenen hoch. So leiden allein in Deutschland rund vier Millionen Menschen an einer Seltenen Erkrankung. Europaweit sind es etwa 30 Millionen, heißt es beim Bundesgesundheitsministerium. In der Europäischen Union gilt eine Erkrankung dann als selten, wenn nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen betroffen sind.

Fünf Jahre für eine Diagnose

Für die Betroffenen stellen Seltene Erkrankungen eine immense Herausforderung dar. Das beginnt schon bei der schwierigen Diagnose. Sehr oft besteht zunächst eine lange Zeit der Unsicherheit, wenn die behandelnden Ärzte die oft unspezifischen Symptome nicht richtig deuten. „Derzeit sehen wir häufig lange Verschleppungszeiten, bis es zur endgültigen Diagnose bei Seltenen kommt“, erklärt Jürgen Schäfer, Leiter des Zentrums für unerkannte und seltene Erkrankungen (ZusE) am Universitätsklinikum Marburg. So warten 30 Prozent der Patientinnen und Patienten mehr als fünf Jahre auf eine Diagnose. Etwa 40 Prozent davon haben eine initiale Fehldiagnose erhalten – häufig aus dem psychiatrischen oder psychosomatischen Formenkreis. Im Schnitt haben Betroffene auf ihrem Weg acht verschiedene Ärzte aufgesucht, nur sehr selten hat jemand das Glück, bereits bei der ersten Arztkonsultation die Wahrheit zu erfahren. 

Der Krankheit einen Namen zu geben, zu wissen, woran sie leiden – das ist für Betroffene und deren Angehörige aber extrem wichtig. Denn erst dann können sie gezielt nach Spezialisten und Behandlungsmöglichkeiten suchen. Zudem verschwindet mit der richtigen Diagnose die quälende Ungewissheit – Patienten und Angehörige fühlen sich erleichtert, wenn sie wissen, was los ist und wie sie damit umgehen können.

Oft genetisch bedingt

Die Seltenen Erkrankungen bilden eine sehr heterogene Gruppe von zumeist komplexen Krankheitsbildern. In der Regel sind sie nicht heilbar und verlaufen chronisch. Sie gehen oft mit einer eingeschränkten Lebenserwartung und mitunter auch mit Invalidität einher. Vielfach manifestieren sie sich bereits im Kindesalter. Rund 80 Prozent der Seltenen Erkrankungen sind genetisch bedingt. Gerade deshalb ließe sich Jürgen Schäfer zufolge das Gros der Seltenen Erkrankungen durch entsprechende Tests und Genanalysen recht schnell abklären. Das Problem: Viele Ärzte können die vielfältigen und oft unspezifischen Symptome gar nicht richtig deuten. In Deutschland gibt es nur 37 auf Seltene Erkrankungen spezialisierte Zentren. Meist sind diese an Universitätskliniken angesiedelt. Aufgrund des starken Patientenzustroms müssen Betroffene jedoch oftmals sehr lange auf einen Termin warten. Rund 1.000 Anfragen von verzweifelten Patienten bekommt das kleine Zentrum in Marburg jedes Jahr – seit Gründung im Jahr 2013 sind es mehr als 9.000. 

Digitalisierung soll helfen

Um Patienten schneller zu helfen, wünscht sich Schäfer Kümmerer-Stationen an allen Universitätskliniken, in denen sich spezialisierte Teams um die kniffligen Fälle kümmern, und ein dynamisches Diagnostik-Panel, das alle behandelbaren Seltenen Erkrankungen erkennt – und zwar unabhängig davon, ob der behandelnde Arzt die korrekte Diagnose überhaupt kennt oder jemals von ihr gehört hat. Hat er den Verdacht, dass eine Seltene Erkrankung vorliegt, erledigt die Labordiagnostik den Rest. „Die enormen Fortschritte im Bereich der Diagnostik erlauben uns die Durchführung solcher Panel-Strategien, die – irgendwann hoffentlich – zu einer schnelleren Diagnose und früheren Therapie führen werden“, hofft Schäfer. Doch auch die Digitalisierung soll die Diagnosefindung in Zukunft erleichtern. So setzen die Marburger auf IBMs Supercomputer Watson, um rätselhafte Patientengeschichten aufzulösen. Dazu füllen die Patienten einen digitalen Fragebogen aus, den das Marburger Ärzteteam erarbeitet hat. Watson extrahiert daraus die für die Ärzte relevanten Informationen und erstellt eine Liste von Hypothesen. Aus diesen können die Mediziner weitaus schneller als bislang ihre Diagnose ableiten. Das aufwendige Durchforsten aller Arztbriefe, Befunde und Laborwerte per Hand entfällt. 

Die auf Seltene Erkrankungen spezialisierte Suchmaschine „Phenomizer“ des Berliner Instituts für Gesundheitsforschung soll anhand der eingegebenen Symptome gezielt auch Erkrankungen erkennen, an denen nur wenige Patienten leiden. Einen anderen Ansatz verfolgt das „Pedia“-System des Instituts für Humangenetik der Charité. Es durchsucht das Erbgut des Patienten nach Genmutationen und berücksichtigt auffällige Krankheitssymptome sowie markante Abweichungen von üblichen Gesichtsproportionen. Daraus kann es mit einer 98-prozentigen Trefferquote berechnen, um welche Seltene Erkrankung es sich handelt. Ersetzen können solche Systeme einen erfahrenen Spezialisten aber nicht. Sie sind vielmehr gedacht, um Allgemeinmediziner beim Erkennen Seltener Erkrankungen zu unterstützen und Patienten schneller und gezielt zum richtigen Spezialisten zu bringen.

Denn klar ist: Auch wenn Seltene Erkrankungen in den meisten Fällen nicht heilbar sind, lassen sich die Lebenserwartung – und vor allem die Lebensqualität – erheblich steigern, wenn sie frühzeitig behandelt werden.

Quellen:
Bundesministerium für Gesundheit: Seltene Erkrankungen
Tagesspiegel: Wie künstliche Intelligenz seltene Krankheiten erkennt
IPF: Diagnostik Seltener Erkrankungen​
se-atlas: Versorgungsatlas

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